
Wenn Frühling bei mir zu Hause klingeln würde, dann würde ich durch den Türspalt wohl eine herrlich duftende, elfenartige Frau mit gelbem Kleid erspähen. So stelle ich mir Frühling vor.
Eduard Mörike hat in seinem Gedicht das Gleiche getan, er hat den Frühling personifiziert. Sehnsüchtig wartet das lyrische Ich auf IHN, den Frühling. All zu Lange kann es nicht mehr dauern. Obwohl er jedes Jahr kommt, so ist es immer, als wäre es das Erste mal.
Die Welt wirkt wie frisch gestrichen, das Neue kündigt sich an. Sprießen da schon die ersten grünen Blätter am Baum vor meinem Fenster? Ja tatsächlich. Er ist’s.
Frühling lässt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohl bekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen.
Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist's!
Dich hab' ich vernommen!
Eduard Mörike (1804 - 1875)
“Wenn sein Tod nicht seine Werke unter die Leute bringt,
ist ihnen nicht zu helfen, nämlich den Leuten.”
Gottfried Keller
Mörikes Werke fanden erst nach seinem Tod wirkliche Anerkennung. Aus ärmlichen Verhältnissen stammend, war sein Leben zwischen Broterwerb als Pfarrer und seiner Leidenschaft als Künstler eine Zerreißprobe. Die Sehnsucht nach einem künstlerischen Dasein schwingt in seinem Werk mit, ein Dasein fernab der Realität und den politisch-gesellschaftlichen Umbrüchen in Deutschland Mitte des 19. Jahrhunderts. Ein Dasein, in dem seine Gedichte gesehen und geachtet werden.
Die Veilchen träumen schon
Das Gedicht Er ist’s ist ein typisches Werk des Biedermeiers oder auch der Spätromantik. Beide Strömungen fließen ineinander über. 1832, es ist die Epoche des Bürgertums. Viele unserer heutigen Riten, wie der Kaffeeklatsch oder das Weihnachtsfest in der Kleinfamilie mit geschmücktem Tannenbaum, stammen aus dieser Zeit. Im bürgerlichem Wohnzimmer oder im Salon feierte man Gemütlichkeit und Geselligkeit. Die Rollen in der traditionellen Familie waren verteilt. Das gab Sicherheit und Struktur inmitten der Industrialisierung und steigenden Armut in den Städten.
Mit der französischen Revolution hatten sich die Menschen Europas demokratische Rechte erkämpft. Diese Gleichheit wurden ihnen mit dem Wiener Kongress 1815 wieder entrissen. Die Adeligen restaurierten ihr Herrschaftssystem und statt Rechte für das Volk, verlangten sie blinden Gehorsam. Die Künstler des Biedermeiers zogen sich resigniert und enttäuscht in ein Idyll zurück. Die Schönheit in der Kunst und Literatur war das Wichtigste, die Realität blieb außen vor. Vielleicht aus Selbstschutz, als eine Art Strategie gegen Hoffnungslosigkeit.
Die Veilchen träumen schon… so taten es in dieser Zeit auch die Künstler des Biedermeiers.
Das Motiv des Träumens erinnert mich an ein bekanntest Gedicht von Jospeh von Eichendorff.
Die Wünschelrute
„Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.“
In der Romantik braucht man ein geheimes magisches Wort, das die verletzte Welt wieder heilt. Das Mittel dafür ist die Poesie. Die Poesie ist eine stille geistige Kraft, die durch die Natur und die Welt geht. Wenn überhaupt, dann hat die Kunst nur den Zweck, den Menschen über sich selbst hinaus zu heben. Die Sehnsucht nach einem ganzheitlichen, menschlichen Wesen, die Verschmelzung von Mensch, Kunst und Natur, die Balance von Licht und Schatten, von Bewusstem und Unbewusstem.
Und wenn das kein Zufall ist. Der Frühling bringt uns genau diese universale Balance am 20. März im Form der Tag- und- Nacht- Gleiche.
Mir gefällt dieser Ansatz der Romantiker, ein poetisches Leben zu führen, ausgeglichen und ganzheitlich. Ein Leben, in der Poesie sogar lebensnotwendig ist.
Die Lyrik war und ist eine schwierig zu vermittelnde Literaturgattung. Eine Nische, die Verlage und Buchhandlungen aus Idealismus, nicht aus wirtschaftlichem Gründen führen. Dichtung ist eine leise und zarte Kunst. Sie bleibt oft unentdeckt in einer lauten Welt.
„Gedichte sind gemalte Fensterscheiben”.
Ich denke an Goethes Text „Gedichte sind gemalte Fensterscheiben”.
Man muss sie erhellen, dass sie wirken. Die bunten Fensterscheiben leuchten erst, wenn sie von der Sonne durchdrungen werden.
Die wahre Schönheit eines Gedichts erkennt man erst, wenn das Licht durchscheint. Genauso zart und leise wie ein Gedicht, kommt auch Mörikes Frühling. Es ist genau ER, dieser Frühling, der Mörikes Gedicht für uns erhellt und sichtbar macht in seiner poetischen Schönheit.
Dieses kurze Gedicht ist ein Kunstwerk und gleichzeitig eine Ode an die Kunst. Er ist’s ist ein Sehnsuchtsgedicht nach dem Frühling, nach Balance, nach Ausgleich, nach Erholung.
Im Monat März möchte ich den Lenz überall erahnen, ich möchte ihn riechen, sehen und hören. Ich möchte ins Reich der Poesie und der Kunst abtauchen. Ich möchte im Sinne der Romantiker einen poetischen März führen, meinen Geist ein wenig von der Realität ausruhen lassen, ein magisches Wort finden, das mich wie eine Wünschelrute durch den Monat führt. Ich möchte träumen und ein bisschen Weltflucht betreiben. Zumindest, bis der Frühling da ist und die Realität wieder anklopft.
Und dich möchte ich auch dazu einladen.
Ich wünsche dir einen wunderschönen, verträumt-romantischen März :)
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