
Nun sind wir mitten im November angekommen – ein Monat des Gedenkens und der Geschichte.
Sonntagabend, halb sechs. Ich spaziere durch die Dunkelheit, die Straßenlaternen werfen bereits ihr Licht auf den nassen Asphalt. Auf dem Bordstein flackern Kerzen neben vergoldeten Stolpersteinen mit den Namen der Vertriebenen. Es nieselt, aber die Kerzenflammen tanzen.
Der 9. November – ein Datum, das so viele gegensätzliche Erinnerungen birgt.
1938: die Reichsprogromnacht, eine Nacht, die jüdisches Leben zerstörte und den Weg in den Holocaust bereitete. 51 Jahre später, 1989: der Fall der Berliner Mauer, ein Moment der Hoffnung, der die Menschen einander wieder näherbrachte und eine Nation neu zusammenwachsen ließ.
Der 9.November ist ein Datum das Krieg und Frieden, Hass und Versöhnung vereint.
Inmitten dieser Gedanken stieß ich auf das Gedicht "Poem" (Ich möchte leben) von Selma Meerbaum-Eisinger, einer deutschsprachigen Dichterin aus Rumänien. Selma wäre in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden – doch der Holocaust raubte ihr Leben mit nur 18 Jahren.
POEM
Die Bäume sind von weichem Lichte übergossen,
im Winde zitternd glitzert jedes Blatt.
Der Himmel, seidig-blau und glatt,
ist wie ein Tropfen Tau vom Morgenwind vergossen.
Die Tannen sind in sanfte Röte eingeschlossen
und beugen sich vor seiner Majestät, dem Wind.
Hinter den Pappeln blickt der Mond aufs Kind,
das ihm den Gruß schon zugelächelt hat.
Im Winde sind die Büsche wunderbar:
bald sind sie Silber und bald leuchtend grün
und bald wie Mondschein auf lichtblondem Haar
und dann, als würden sie aufs neue blühn.
Ich möchte leben.
Schau, das Leben ist so bunt.
Es sind so viele schöne Bälle drin.
Und viele Lippen warten, lachen, glühn
und tuen ihre Freude kund.
Sieh nur die Straße, wie sie steigt:
so breit und hell, als warte sie auf mich.
Und ferne, irgendwo, da schluchzt und geigt
die Sehnsucht, die sich zieht durch mich und dich.
Der Wind rauscht rufend durch den Wald,
er sagt mir, dass das Leben singt.
Die Luft ist leise, zart und kalt,
die ferne Pappel winkt und winkt.
Ich möchte leben.
Ich möchte lachen und Lasten heben
und möchte kämpfen und lieben und hassen
und möchte den Himmel mit Händen fassen
und möchte frei sein und atmen und schrein.
Ich will nicht sterben. Nein!
Nein.
Das Leben ist rot,
Das Leben ist mein.
Mein und dein.
Mein.
Warum brüllen die Kanonen?
Warum stirbt das Leben
für glitzernde Kronen?
Dort ist der Mond.
Er ist da.
Nah.
Ganz nah.
Ich muß warten.
Worauf?
Hauf um Hauf
sterben sie.
Stehn nie auf.
Nie und nie.
Ich will leben.
Bruder, du auch.
Atemhauch
geht von meinem und deinem Mund.
Das Leben ist bunt.
Du willst mich töten.
Weshalb?
Aus tausend Flöten
weint der Wald.
Der Mond ist lichtes Silber im Blau.
Die Pappeln sind grau.
Und Wind braust mich an.
Die Straße ist hell.
Dann...
Sie kommen dann
und würgen mich.
Mich und dich
tot.
Das Leben ist rot,
braust und lacht.
Über Nacht
bin ich
tot.
Ein Schatten von einem Baum
geistert über den Mond.
Man sieht ihn kaum.
Ein Baum.
Ein
Baum.
Ein Leben
kann Schatten werfen
über den
Mond.
Ein
Leben.
Hauf um Hauf
sterben sie.
Stehn nie auf.
Nie
und
nie.
Selma Meerbaum- Eisinger 1941
Selma war ein jüdisches Mädchen, 1924 in Czernowitz geboren, einer pulsierenden Metropole im Vielvölkerland der Bukowina. Einst Teil des Habsburgerreichs, später rumänisch, war Czernowitz ein kulturelles Zentrum Osteuropas. In der Schule sprach man Rumänisch, doch zu Hause und mit Freundinnen unterhielt sich Selma auf Deutsch. Sie verschlang die Werke von Heine, Rilke, Verlaine und Tagore, ebenso wie Klabunds Nachdichtungen chinesischer Gedichte. Zugleich besann sie sich auf ihre Wurzeln und wandte sich dem Jiddischen zu. All diese Einflüsse sind in ihren Gedichten unverkennbar. Sie schrieb 52 in der Zahl, vereint in ihrem einzigen Gedichtband “Blütenlese”.
1941 wurden Selma und ihre Familie ins Ghetto Czernowitz gesperrt. Sie versuchte zu fliehen, wurde jedoch gefasst und brach sich dabei ihr Bein. Wenig später wurde die Familie nach Transnistrien deportiert. Nach einem endlosem Marsch erreichten sie das deutsche Zwangsarbeitslager Michailowska. Sie überlebt dort nur ein halbes Jahr.
Ihren letzten Brief schrieb Selma im Juli 1942 an ihre beste Freundin Renée:
Ich halte nicht mehr durch, jetzt breche ich zusammen... Küsse, Chesak – Selma.
(Chesak bedeutet auf Hebräisch „Sei stark“.)
Selma starb am 16. Dezember 1942 an Fleckfieber. Ihre Eltern überlebten sie nur um wenige Tage.
Was uns bleibt, sind ihre Gedichte, die uns von Sehnsucht, Lebenswillen und Hoffnung erzählen. Aber auch von der Angst vor dem Einmarsch der Nationalsozialisten.
Dass wir heute ihre Gedichte lesen können, ist fast ein Wunder. Vor ihrer Deportation ließ Selma ihre Gedichte ihrem Freund zukommen, der sie mit ins Arbeitslager schmuggelte. Er entschied sich mit dem Schiff nach Palästina zu fliehen, das tragischerweise sank, er überlebte nicht. Die Gedichte hatte er vor seiner Flucht Selmas Freundin Renée gegeben, die sich selbst retten konnte. Sie trug Selmas Werke in ihrem Rucksack quer durch Europa bis sie 1948 Israel erreichte. Ihr Lehrer der jiddischen Schule veröffentlichte den Band 1976 als Privatdruck. In die Öffentlichkeit trat Selmas Werk erst 1980 durch eine Stern-Reportage eines Journalisten, der bei Recherchen über verbannte DDR Literatur darauf aufmerksam wurde.
Mittlerweile wird ihr Werk zur Weltliteratur gezählt. Iris Berben interpretierte ihre Gedichte und reiste 2011 in die heutige Ukraine, um sie dort vorzulesen, wo sie entstanden sind.
Selma Meerbaum gehört neben den Literaten Paul Celan und Rose Ausländer zum literarischen Dreigestirn von Czernowitz. Ihr Werk ist Dokument für die grausame Vernichtung jüdischem und kulturellen Lebens.
Ihr letztes Gedicht konnte sie nicht mehr beenden. Es entstand in der Stunde, in der sie dem Tod ins Auge sah und mit einer stillen Kraft diese Zeilen schreibt:
Tragik
Das ist das Schwerste: sich verschenken
Und wissen, dass man überflüssig ist,
sich ganz zu geben und zu denken,
daß man wie Rauch ins Nichts verfließt.
Das Gedicht hat Selma am 23.12.1941 geschrieben. Mit rotem Stift fügt sie als letzte Zeile hinzu:
Ich habe keine Zeit gehabt zu Ende zu schreiben…
Eure Jana
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